Half februari heeft de Belgische regering besloten dat werknemers recht moeten hebben op een vierdaagse werkweek. Het salaris blijft hetzelfde – en de werktijden ook. Wie vroeger 38 uur per week werkte, kan voortaan vier dagen per week negen-en-een-half uur per dag naar kantoor gaan – en in ruil een extra dag vrij krijgen. Volgens de Belgische premier Alexander De Croo moet dit helpen om werk en privéleven te combineren. In Duitsland hebben tot dusver slechts enkele bedrijven zich aan de vierdaagse werkweek gewaagd. De meeste zijn start-ups of kleinere bedrijven uit de tech-industrie. Tijdssocioloog Ignace Glorieux legt in Der Spiegel uit of het Belgische model een schijnvertoning is of de werknemers echt helpt.
Belgien verkündet die Viertagewoche – ohne dabei die Arbeitsstunden zu reduzieren. Der Zeitsoziologe Ignace Glorieux erklärt, warum er den Vorstoß begrüßt, obwohl dieser zu den wenigsten Beschäftigten passt.
Mitte Februar hat die belgische Regierung beschlossen, dass Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Anspruch auf eine Viertagewoche haben sollen. Das Gehalt soll dabei gleich bleiben – die Arbeitszeit auch. In Belgien kann das zum Beispiel bedeuten: Wer vorher 38 Stunden in der Woche gearbeitet hat, kann künftig an vier Tagen in der Woche neuneinhalb Stunden pro Tag ins Büro – und hat zusätzlich einen freien Tag. Das solle etwa der Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben zugutekommen, so Belgiens Premierminister Alexander De Croo.
In Deutschland wagen sich bislang nur vereinzelt Unternehmen an die Viertagewoche. Meist Start-ups oder kleinere Betriebe aus der Techbranche; dann allerdings mit reduzierter Arbeitszeit – bei gleichem Einkommen. Ob das belgische Modell nun eine Mogelpackung ist oder Arbeitnehmern wirklich hilft, erklärt Zeitsoziologe Ignace Glorieux.
SPIEGEL: Herr Glorieux, können Sie fast zehn Stunden am Tag konzentriert durcharbeiten?
IG: Kommt darauf an, was und wie viel ich mache. Wenn ich zehn Stunden lang in Meetings stecken würde oder Vorlesungen halten müsste, wäre das unmöglich. Aber Publikationen konzentriert zu lesen oder selbst zu schreiben, könnte ich, wenn ich einmal im Flow bin. Dann vergesse ich aber manchmal auch zu essen.
SPIEGEL: Klingt nicht sehr gesund. Vor allem, wenn man das vier Tage hintereinander machen soll.
IG: Gesund ist es langfristig vermutlich nicht. Ob man es trotzdem durchhält, kommt wahrscheinlich darauf an, wie sehr man seine eigene Beschäftigung mag.
SPIEGEL: In Belgien sollen Arbeitgeber die Möglichkeit bekommen, an vier Tagen länger zu arbeiten – für einen freien Tag mehr in der Woche. Was halten Sie davon?
IG: Ich fände es nicht gut, wenn Arbeitgeber entscheiden dürften, wie lange ihre Beschäftigten von nun an arbeiten. Das ist hier allerdings nicht der Fall, denn hier geht die Initiative von den Arbeitnehmern aus – zumindest bei denen, für die es praktikabel ist. Wer ein Geschäft führt, das morgens um zehn Uhr öffnet und abends um 17 Uhr schließt, dem wird dieser Vorstoß nicht viel bringen. Ich habe jetzt aber auch von einem Autoverleih gehört, da funktioniert das wunderbar.
Wenn es Beschäftigten hilft, flexibler zu sein, ist das doch etwas Gutes: Sie würden sich an einem Tag in der Woche die Anfahrt ersparen, was in Belgien, wo viele Menschen jeden Tag pendeln, schon einen Unterschied macht. Und bei drei freien Tagen bekämen manche doch neue Möglichkeiten, Haushalt, Familie und Hobbys besser zu organisieren. Eltern, die getrennt leben und nur alle zwei Wochen auf die Kinder aufpassen, können so besser die Arbeit aufteilen und dann mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen.
SPIEGEL: Ist die belgische Viertagewoche nicht nur etwas für Besserverdiener, die sowieso schon flexibel und mobil arbeiten?
IG: Das glaube ich nicht, dass es einen Unterschied zwischen besser oder schlechter Verdienenden oder Qualifizierten macht. Menschen, die einen Zweitjob haben oder brauchen, können den schließlich auch flexibler einplanen.
SPIEGEL: Und noch mehr arbeiten? Das ist doch das Gegenteil von dem, was Modelle der Viertagewoche bezwecken wollen.
IG: Ich will das auch niemandem empfehlen. Aber es gibt nun einmal Menschen, die nach ihrem Job abends noch in einer Bar oder einem Restaurant arbeiten, weil sie mehr Geld benötigen. Für sie böte der neue Vorstoß eine extra Möglichkeit, beide Jobs flexibler zu organisieren.
SPIEGEL: Studien zeigen seit Jahrzehnten: Am Tag kann man sich höchstens für ein paar Stunden konzentrieren. Zehn Stunden Büroarbeit würden voraussichtlich dafür sorgen, dass Beschäftigte mehr Fehler machen. Das kann eigentlich nicht im Interesse eines Unternehmens sein.
IG: In einem Interview sagte ich kürzlich, bei einem Bauarbeiter, der schwere körperliche Arbeit verrichtet, sinkt seine Produktivität und das Risiko von Arbeitsunfällen steigt. Daraufhin schrieb mir ein Bauarbeiter, dass ein langer Arbeitstag bei ihm gut funktioniere. Mir fällt es schwer, bei diesem Vorstoß zu verallgemeinern. Ob er zu jemandem passt, kommt auf das Unternehmen an, die Position, die Familiensituation, den Charakter, wer wann wie produktiv ist. Ich möchte wirklich nicht für Mehrarbeit plädieren. Aber ich sehe nicht, dass ein längerer Arbeitstag für alle Menschen in allen Jobs immer etwas Schlechtes wäre.
SPIEGEL: Wie viele werden denn Ihrer Meinung nach das Angebot überhaupt wahrnehmen?
IG: Ich weiß es natürlich nicht. Aber ich denke, nicht mehr als zehn Prozent der Belgierinnen und Belgier. Diese Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist immer noch einer der Faktoren, der männlichen Beschäftigten mehr Flexibilität bei der Gestaltung ihrer Arbeitswoche ermöglicht.
SPIEGEL: Befürworter sagen, der Vorstoß könne Frauen helfen, die nach wie vor häufiger in Teilzeit arbeiten und gleichzeitig den Haushalt schmeißen und sich um die Kinder kümmern. Männer könnten sie ja dann zumindest mehr entlasten.
IG: Ja, die Vollzeitstelle wird häufig – vor allem von Männern – als perfektes Alibi genutzt, um weniger im Haushalt zu machen. Da darf man sich aber nichts vormachen. Wir haben mal eine Studie mit Frauen und Männern durchgeführt, die gleichermaßen in Vollzeit gearbeitet haben – die Frauen haben trotzdem mehr im Haushalt geleistet. 2016 haben wir Professoren und Professorinnen an unserer Universität gebeten, für eine Woche in einem Tagebuch ihre Arbeitszeiten festzuhalten. Das Ergebnis: Sie haben sechs Stunden länger gearbeitet. Frauen hingegen schauen sich häufiger nach Jobs um, die mit dem Haushalt und einer Familie kompatibel sind – und haben deswegen weniger Zeit für bezahlte Arbeit.
SPIEGEL: Kein Wunder, dass Männern nach wie vor nachgesagt wird, mehr zu leisten.
IG: Das ist doch kein fairer Wettbewerb. Das ist wie ein Athlet, der sich sechs Stunden mehr pro Woche auf die Olympischen Spiele vorbereitet. Klar liefert der am Ende mehr ab. Diese Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist immer noch einer der Faktoren, der männlichen Beschäftigten mehr Flexibilität bei der Gestaltung ihrer Arbeitswoche ermöglicht. Ich bin mir nicht sicher, ob sich daran etwas ändern wird, wenn nun die Viertagewoche eingeführt wird. Nach wie vor ist es häufig so, dass mindestens einer in Vollzeit arbeiten muss. Beide in Teilzeit, und dann noch mit Kindern, ist finanziell nur schwer zu leisten. Dabei wäre es doch ideal: 60 Stunden für beide, fair aufgeteilt. Das würde vielleicht dazu führen, dass Arbeiten im Haushalt und die Versorgung der Kinder ebenfalls gerechter verteilt wären. Aber natürlich muss sich auch kulturell etwas verändern, damit der Haushalt nicht überwiegend an Frauen hängen bleibt.
SPIEGEL: Wenn zwei im Team nun an vier Tagen länger arbeiten, die anderen aber nicht, weil es nicht praktikabel ist: Wird das Arbeitskollegen nicht stärker auseinander treiben?
IG: Das kann sein, glaube ich aber nicht. In und zwischen Unternehmen gibt es größere Ungerechtigkeiten, zum Beispiel in Bezug auf unterschiedliche Stellen, Gehälter, Boni, Firmenwagen. Das wäre nur eine weitere – oder kann in manchen Teams für mehr Entlastung sorgen, weil die Kollegen Belastungen flexibler auffangen können. Es kann auch dazu führen, mehr Talente anzuziehen, die sich ihre Arbeitszeit flexibler einteilen wollen. Ich würde den Vorstoß aber nicht überbewerten. An der belgischen Arbeitswelt wird er vermutlich nicht so viel verändern. Aber vielleicht ist er ein Anfang, um über eine tatsächliche Viertagewoche zu diskutieren.
SPIEGEL: Mit dem Gesetz wurde auch ein »Right to disconnect« eingeführt: Mit der Erlaubnis des Arbeitgebers dürfen Beschäftigte in Unternehmen mit mehr als 20 Mitarbeitenden nach der Arbeit Handy und Laptop ausschalten – ohne Ärger zu bekommen, weil sie nicht erreichbar sind. Geht das nicht an der Realität vorbei?
IG: Vermutlich ja, kommt aber auf den Betrieb an. In großen Unternehmen ist das ein viel geringeres Problem als in kleineren, wo die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern persönlicher ist und Beschäftigte mitunter auch unersetzlicher sind. Selbst wenn man es nicht tun muss, verleitet unsere Arbeitskultur uns doch häufig, schnell zu antworten und erreichbar zu sein. Wie in einem Wettbewerb, wer die oder der Beschäftigste ist. Ich schicke auch manchmal noch spät abends E-Mails, weil ich mich zu dieser Zeit oft noch sehr produktiv fühle – erwarte aber nicht, dass ich darauf noch eine Antwort bekomme.
SPIEGEL: Werden Sie eigentlich die Viertagewoche wahrnehmen?
IG: Nein. Ich kann mir meine Zeit sowieso schon relativ flexibel einteilen. Wenn die Sonne scheint, gehe ich am Nachmittag beispielsweise auch mal zwei Stunden spazieren und arbeite dafür länger am Abend oder an den Wochenenden. Meine Frau und ich arbeiten beide recht viel und unsere Kinder leben nicht mehr zu Hause, deshalb geht das recht gut. Aber deswegen ist das Recht, das Handy nach Feierabend auszuschalten, doch auch etwas widersprüchlich, oder? Zum einen wollen wir die Freiheit, unsere Arbeitszeit flexibel einzuteilen und auch mal draußen spazieren zu gehen. Zum anderen wollen wir das Recht, uns zwischen unseren Arbeitszeiten komplett wegzuschalten. Beides auf einmal geht aber nicht. Jeder muss also entscheiden, was am besten passt – und das dann eindeutig mit dem Arbeitgeber kommunizieren.